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Reichen holte Claire ein, als die Versammlung im Techniklabor sich auflöste. Während die restlichen Krieger der Reihe nach hinausgingen, um sich auf den letzten Einsatz dieser Nacht in der Stadt vorzubereiten, blieb er zurück. Er hatte Claire fest im Blick, und in seinen Augen lag eine wechselnde Mischung aus Empörung und nackter Angst.

„Was zum Teufel sollte das?“, wollte er wissen, als sie zusammen mit Gabrielle und Savannah das Labor verließ. „Als Tegan mir vor ein paar Minuten erzählt hat, du hättest Kontakt zu Roth aufgenommen, habe ich ihm nicht geglaubt. Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht, Claire? Hast du überhaupt irgendetwas gedacht?“

Sie schluckte angesichts dieser Verbalattacke, wich aber nicht zurück. „Alles in Ordnung“, erklärte sie den beiden Stammesgefährtinnen in ihrer Begleitung.

„Andreas und ich haben etwas allein zu bereden.“

Reichen kochte vor Wut, als die Gefährtinnen von Lucan und Gideon sich entfernten und ihn mit einer äußerst trotzigen und gefassten Claire allein im Flur zurückließen.

„Mein Gott!“ Er fühlte sich, als habe man ihm eine Ohrfeige verpasst. So hatte er sich auch gefühlt, als Tegan ihm die Nachricht von Claires Traumspaziergang beigebracht hatte - dass sie zu ihrem Gefährten gegangen war, unmittelbar nach ihrer Begegnung in der Kapelle das Hauptquartiers, die so unschön geendet hatte. „Was hast du denn gedacht, was du damit erreichen kannst, Roth auf diese Weise zu kontaktieren?“

„Ich hatte meine Gründe“, erwiderte sie ruhig.

„Und die wären?“

„Ist doch egal. Er war nicht interessiert zu verhandeln. Was dich sicher nicht weiter überraschen dürfte.“

Reichen schnaubte verächtlich. „Roth verhandelt nicht. Er nimmt einfach. Und wenn das nicht geht, stiehlt er. Und tötet, Claire. Was zur Hölle hast du bloß mit einem Besuch bei ihm zu erreichen geglaubt, selbst in einem Traum?“

Sie wollte sich an ihm vorbeidrängen, als hätte sie vor, ihn ohne Antwort im Flur stehen zu lassen. Doch bevor sie zwei Schritte getan hatte, packte er sie am Arm und zog sie zu sich zurück.

„Worum hast du ihn gebeten, Claire? Um deine Freiheit? Seine Gnade?“ Er starrte sie finster an, wütend über ihren Leichtsinn und gleichzeitig so erleichtert, dass sie am Leben war und sich in seinem festen Griff warm anfühlte. „Hast du gedacht, er würde dich einfach freigeben, wenn du ihn darum bittest?“

„Nein“, antwortete sie und reckte stolz das Kinn.

„Ich habe ihn nicht darum gebeten, mich freizugeben, Andre. Sondern darum, mich zurückzunehmen... allerdings unter der Bedingung, dass er dich am Leben lässt.“

Sie hätte ihm ebenso gut einen Bleihandschuh gegen das Brustbein rammen können. „Du hast was?“

Herrgott, allein der Gedanke, sie könnte zu Roth zurückgehen - ganz egal unter welchen Bedingungen - , brachte sein Blut zum Kochen. Aber dass sie sich Roth anbot, im Austausch gegen ihn? Er hätte am liebsten aufgeschrien vor Empörung, so laut, dass man es noch bis unter das Dach hörte.

„Er will mich nicht. Hat er nie getan.“ Sie schüttelte den Kopf, während sie sich aus seinem Griff befreite.

„Er hat gesagt, dass er mich nur zur Gefährtin genommen hat, weil er wusste, dass es dich verletzen würde. Er versucht schon seit langer Zeit, dir wehzutun, Andreas.“

Dass Roths Hass schon seit vielen Jahren schwelte, war kein Schock für ihn. Aber er konnte kaum etwas davon aufnehmen, denn nun sickerte ihm die Bedeutung dessen, was Claire getan hatte - was sie bereit gewesen war, für ihn in Kauf zu nehmen - , wie heißes Öl ins Herz. „Hast du irgendeine Ahnung, wie sehr es mich verletzt hätte, wenn er dein Angebot angenommen hätte?“

„Wahrscheinlich nicht so sehr, wie es mich verletzen wird, wenn du umkommst bei deinem Versuch, ihn zu vernichten.“

Reichen wusste, dass er das verdient hatte. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, ihr den Weg zu verstellen, als sie erneut versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken. „Du gehst nicht in seine Nähe, Claire. Nicht mit dem Orden und nicht mal mit einer kompletten verdammten Armee an deiner Seite. Ich hab gehört, was du da drinnen gesagt hast, und ich weiß, dass du mithelfen willst, ihn zur Strecke zu bringen, aber du wirst das Hauptquartier nicht verlassen, solange Roth noch irgendwo da draußen ist. Ich verbiete es dir.“

Sie starrte ihn an. „Wie bitte? Du verbietest...“

„Ich werde dir das nicht erlauben.“

„Und ich frage dich nicht um Erlaubnis“, konterte sie. Ihr Zorn pulsierte so heftig in ihren Adern, dass er ihn wie ein Echo seiner eigenen Wut spüren konnte.

„Nach dem, was ich heute in Roths Traum gesehen habe, muss ich dem Orden dabei helfen, ihn auszuschalten. Mit allen meinen Kräften. Gerade du solltest das doch verstehen.“

Reichen schüttelte den Kopf. Er weigerte sich, es auch nur in Erwägung ziehen. „Du tust das nicht, Claire. Das kann ich nicht zulassen.“

Sie starrte ihn eine ganze Weile an, dann fiel ihr Blick auf etwas hinter seinem Rücken am anderen Ende des Korridors. „Deine Kameraden warten auf dich.“

Er drehte sich um und sah Tegan, Rio und einige der anderen Krieger neben dem Fahrstuhl stehen, der sie nach oben bringen würde. Mit einem Nicken signalisierte er ihnen, dass er noch einen Moment brauchte. Doch als er wieder zu Claire sah, stand sie nicht mehr vor ihm, sondern ging entschlossen den Korridor hinunter.

„Verdammt“, murmelte er vor sich hin.

Dann wandte er sich erneut zu den Kriegern um und verfiel in Laufschritt, um sich ihnen auf ihrer nächtlichen Patrouille anzuschließen.

Wilhelm Roth spürte den kalten, emotionslosen Blick von fünf Gen-Eins-Killern auf sich ruhen, während er in Dragos' unterirdischem Labor noch einmal die Technik überprüfte. Alles war an Ort und Stelle, exakt so, wie es ihm aufgetragen worden war.

Nun konnte er nur noch warten. Warten und hoffen, dass Claire gerade beim Orden war und sich darüber beklagte, wie übel er sie und Andreas Reichen behandelt hatte, und den Kriegern alles erzählte, was sie bei ihrem verdammten Traumspaziergang gesehen hatte.

So schwer es auch sein mochte, Dragos' versteckten Schlupfwinkel ausfindig zu machen, war der Orden doch einfallsreich und entschlossen. Und auf eben diese Eigenschaften baute Dragos, um einen Teil der Ordensbrüder in die Falle zu locken, die er und Roth ihnen gestellt hatten.

Claires Blutsverbindung zu Roth und ihr lächerliches Ehrgefühl würden den Rest erledigen.

Roth war sich darüber im Klaren, dass seine Zukunft vom Erfolg seines bevorstehenden Offensivschlages gegen die Krieger abhing. Wenn er misslang und ihn nicht einer der Killer erledigte, die beauftragt waren, ihm zu helfen, würde es Dragos mit Sicherheit selbst tun. Während er ein letztes Mal die Zünder und Sprengsätze kontrollierte, fragte er sich, ob man ihn mit einem Selbstmordkommando betraut hatte.

Er hatte jedoch nicht die Absicht, hier zu sterben.

Die Krieger hingegen...

Wenn sie erst einmal in seine Falle getappt waren, hatte keiner von ihnen auch nur die geringste Chance, lebend wieder herauszukommen. Er konnte nur hoffen, dass der Orden all seine Mitglieder auf ihn ansetzte. Was für ein Spaß es werden würde, den ganzen Trupp auf einen Schlag krepieren zu sehen.

Und noch besser, wenn auch Claire und ihr wieder mit ihr vereinter Liebhaber darunter waren.

Befriedigt, dass alles im Labor bereit war, steuerte Roth die Gefängniszone mit UV-Licht an, um auch dort alles ein letztes Mal zu überprüfen. Er wollte, dass alles perfekt war für die bevorstehende Ankunft des Ordens... und dessen Untergang.

Es war viel zu ruhig.

Den größten Teil der Nacht hatten Lucan und der Rest des Ordens damit verbracht, die Stadt nach Hinweisen auf Dragos oder die Gen-Eins-Killer zu durchkämmen, die er anscheinend auf die Straßen losgelassen hatte, um den Orden herauszulocken.

Nachdem sie mehrere Stunden damit verbracht hatten, jedes verlassene Grundstück, jede Lagerhalle, jede finstere Seitengasse und sämtliche Hausdächer abzusuchen, hatte Lucan nicht das Geringste entdeckt.

Genau wie die übrigen Teams dieser Nachtpatrouille. Er hatte eben mit Niko und Renata geredet, die gemeinsam mit Dante und Hunter das Gebiet unten am Mystic River abgesucht hatten.

Keine Spur von Unruhe, abgesehen von dem üblichen Irrsinn, den die Menschen sich gegenseitig antaten. Offen gesagt gefiel ihm diese seltsame Ruhe heute Nacht gar nicht.

Etwas schien... ausgeschaltet, abgestellt.

Tief in seinem Inneren konnte Lucan immer noch spüren, dass sich letzte Nacht schwerer Arger in der Stadt zusammengebraut hatte. Diese Morde an Menschen zeichneten sich durch besondere Brutalität und Dreistigkeit aus. Der Orden war äußerst unverhohlen ins Spiel hinausgelockt worden, weshalb also zog Dragos jetzt, da er ihre Aufmerksamkeit hatte, seine Leute wieder zurück?

Als Lucan in der letzten Stunde vor Anbruch der Morgendämmerung seinen Bereich noch einmal visuell überprüfte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er und der Rest des Ordens mitten in der Bahn eines bevorstehenden Tsunamis standen.

Flut und Wind hatten sich unnachgiebig zurückgezogen und einen gespenstischen, trügerischen Zustand der Ruhe hinterlassen.

Im Augenblick war alles ruhig, aber jede Minute würde diese Mutter aller Wellen über sie hereinbrechen und alles auf ihrem Weg verschlingen.

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